Das Klavier am Fenster und andere Erinnerungen

Hermine Antoni: Dank ihr darf die Orgel von Meschendorf wieder klingen

                                                                            Nina May

Mit einem zaghaften Lächeln setzt sie sich an die Orgel. Als sich die ersten Töne lösen und das Schiff der schmucken Kirche von Meschendorf/ Meșendorf durchdringen, strahlt sie wie ein glückliches Kind. Hermine Antoni taucht ein in eine vergangene Welt, die lebhaft vor ihren Augen entsteht: „Ich saß hier auf der Kinderbank, später auf der Jugendbank, und blickte auf die schönen Pfeifen.“ Schon immer fasziniert vom Orgelspiel, gab es für das sächsische Mädchen keinen schöneren Moment, als damals als der Klavierlehrer sie in das würdige alte Instrument einweihte. Es war eine Ehre, darauf zu spielen! „Mein Vater hatte im Krieg und in Russland gelernt, dass Musik einem überall hilft, das seelische Gleichgewicht zu bewahren“, erklärt sie, warumein einfaches Mädchen aus dem Dorf überhaupt Klavierunterricht erhielt. Der Fotografknipst und ich muss den Blasebalg kräftig treten, bis die Szene im Kasten ist. Außer uns dreien ist niemand mehr in der Kirche. Nur die Wände hören Hermines Musik – und ihre Geschichte.

Es ist der 5. August, der Tag von Meschendorf während der Haferlandwoche. Erst jetzt, am frühen Nachmittag, kommt Hermine Antoni ein wenig zur Ruhe. Die Festgäste ziehen von dannen, Autos, Fahrräder und Pferdewägen bilden eine bunte Perlenschnur. Die Helfer, die den Imbiss vor der Kirchenburg organisierten, kommen endlich selber zum Essen: Teller mit Gulasch, Striezel und Hanklich werden herumgereicht.

Wir ziehen uns in die kühle Kirche zurück. Der Trubel ist vorbei, der Ort wieder in die gewohnte Ruhe versunken, wie jedes Jahr nach der Haferlandwoche. Nur eines ist diesmal anders: Die schmucke Orgel kann seit Jahren erstmals wieder vernünftig bespielt werden!


Hermineam Klavier
Hermine Antoni an der Orgel

Fotos: George Dumitriu

„Was nützt uns das Ding, wenn es nicht spielt?“

Im Juni hatte uns Hermine Antoni noch erzählt, wie sehr sie der Zustand des geliebten Instruments all die Jahre lang belastet hatte. „Immer musste ich den Leuten sagen, dass die Orgel leider nicht funktioniert.“ 1914 war das Instrument aus der Werkstatt Wegenstein über dem Altar eingebaut worden. „Es war nicht leicht für die Bauern gewesen, eine Orgel für die Kirche zu beschaffen. Um Geld zu verdienen, mussten sie mit dem Ochsenkarren nach Schäßburg fahren“, erklärt sie ehrfürchtig. Aus der Kirche, in der Hermine geboren, getauft und konfirmiert wurde und schließlich geheiratet hat, war sie fortan nicht mehr wegzudenken. Ihre Ehrfurcht stieg, als sie während der Reparatur zum ersten Mal das komplizierte Innenleben sah.

Als vor sechs Jahren ein paar Pfeifen gestohlen wurden, hatte ihre Familie bereits zusammengelegt und tausend Euro für den Einbau von Ersatzpfeifen gespendet. Doch das Unglück, das bei der letzten Renovierung der Kirche geschah, war fast noch größer: Mörtel und Bauschutt fielen in die äußeren Pfeifen, die nicht vom Prospekt abgedeckt waren! Seither zischte das himmlische Instrument nur noch aus allen Ecken. Schließlich fasste die Sächsin, die jedes Jahr den Sommer in Meschendorf verbringt, einen festen Entschluss: Pünktlich zur Haferlandwoche muss die Orgel wieder spielen!     Beim Heimattreffen in Dinkelsbühl warb sie für ihr Projekt. Viele ehemalige Meschendorfer versprachen, sich zu beteiligen. Als sie hörte, dass Barbara Dutli von der Orgelbauwerkstatt Honigberg/Hărman vor Ort war, bat sie sie um einen Kostenvoranschlag. Die Summe überstieg ihre Vorstellungen. Trotzdem meinte Hermine Antoni beherzt: „Fangen Sie einfach an!“ Doch noch war kein Geld da und irgendjemand musste den ersten Schritt tun, also blätterte sie selbst 5000 Euro aus ihren Ersparnissen hin. „Was nützt uns das Ding, wenn es nicht spielt?“ rechtfertigt sie das Opfer für das Instrument, auf dem schon ihr Vater Organist gewesen war.

Bis zu ihrem großen Einsatz auf der Haferlandwoche war die Orgel schließlich für 7500 Euro gereinigt und soweit hergestellt worden, dass sie vernünftig bespielt werden konnte. Glücklich fügt Hermine Antoni an: „Herr Schmidt hat heute Geld zugesagt, er war hier im Gottesdienst! Er sagte, ja, du kriegst den Rest, den du noch nicht bezahlt hast.“ Ob noch weitere Spenden zusammenkommen, die die vorgestreckte Summe kompensieren? Die rührige Meschendorferin bekennt, sie könne so oder so damit leben. „Hier hab ich was bewegt und kann mich freuen! Es ist für alle Leute sinnvoll. Musik tut gut – wenn man Orgel hören kann, braucht man vielleicht weniger oft einen Psychiater.“

Orgel Meschendorf
Orgel

Ambulantes „Museum“ im Ferienhaus

Im strahlenden Sonnenschein schlendern wir in den Bering. Auch dort sind die Spuren des Einsatzes von Hermine Antoni noch zu sehen, die jedes Jahr zur Haferlandwoche eine Ausstellung organisiert.

Hermine

Diesmal illustrieren schmucke Trachten und Handarbeiten den Stilwandel in den letzten 100 Jahren. Früher dominierten die Farben rot und schwarz, blau kam erst später dazu, erklärt sie. Anfangs wurde mehr gewebt, später nahm die Kreuzstich- Stickerei an Beliebtheit zu. Eine beliebte Arbeitsvorlage war die sogenannte Sigerus- Mappe mit Mustern, die der Ethnograf, Historiker und Schriftsteller Emil Sigerus zusammengetragen hatte. Auch eine kleine Fotoausstellung hat Hermine Antoni zusammengestellt. Die Exponate stammen alle aus ihrer eigenen Sammlung: Handtücher, Haussegen, Kissenbezüge, Tischdecken. Die eigene Tracht, die Tracht der Mutter, die der Großmutter. Schürzen für alle Lebenslagen: den Kirchgang, die Feldarbeit, den Tanzball.

„Die Schürze war das Vorzeigeschild der Frauen“, klärt sie auf. Und natürlich musste alles selbstgemacht sein! Akribisch prüften die anderen, ob auch auf der Rückseite des Stoffs die richtige Stichfolge eingehalten wurde. Von klein auf wurden die Mädchen zum Sticken, Weben, Häkeln oder Nähen angehalten. Die erste Arbeit im Handarbeitsunterricht war meist ein Kissen, weil es einfach war, erzählt Hermine Antoni. Fleißig gearbeitet wurde auch im Sommer in den Ferien. Schon die Mädchen verglichen, wer das schönere Stickmuster hatte. Nicht jede lieh das ihre auch einer anderen. „Später, in der Pubertät, musste man für die Konfirmation allerlei machen, Spitzen für Hemden häkeln.“ Doch nicht nur Trachten, auch Alltagskleider wurden selbst genäht. „Meine ersten Kleider als Lehrerin hab ich mir aus Stoffen meiner Großmutter selbst gemacht“ erinnert sich Hermine Antoni. „Alte Trachten kaputt geschnitten und hübsche Kleider draus gemacht. Heute tut mir das leid“, bedauert sie, „aber es gab damals kaum Stoffe und man hatte auch kein Geld.“

Bereits einen Monat vor der Ausstellung hat sie die Trachten aus den Schränken genommen, sortiert, geprüft, gelüftet, an allen Türen in ihrem Haus aufgehängt: „Hat man ein Museum, fällt diese Arbeit nur einmal an.“ Sie aber muss jedes Jahr alles wieder ein- und aussortieren, auf Flecken prüfen, waschen, „und aufs Handy schauen und zittern,ob kein Regen kommt!“

Expo Meschendorf Expo Meschendorf

Expo Meschendorf Expo Meschendorf

Von Juni bis in den Oktober verbringen Hermine Antoni und ihr Mann, der aus Klosdorf/ Cloașterf stammt, den Sommer in Meschendorf. Doch lange nach ihrer Auswanderung 1978 war die Heimat kein Thema gewesen. Man kämpfte um seinen Platz im „Zahnradgetriebe Deutschland“, die Eingliederung fiel schwer: Der Ehemann hatte Schwierigkeiten, eine Anstellung zu finden, weil er „nur“ die rumänische Schule besucht hatte und sein Deutsch nicht ganz perfekt war. Ihr Studium als Grundschullehrerin wurde in Nordrhein-Westfalen nicht anerkannt. Ihm gelang es schließlich, in der Stadtverwaltung von Arnsberg unterzukommen. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Erzieherin, der ein Studium der Heilpädagogik folgte. Nebenbei kamen drei Kinder zur Welt. „Ich hatte so viel zu tun, die Heimat hat mir gar nicht gefehlt“ gesteht Hermine Antoni. Erst nach der Frührente hatte sie sich entschlossen, an einem Treffen in Meschendorf teilzunehmen.

„Hier kannst du noch einmal etwas bewegen“, fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen. Kurz entschlossen kaufte Hermine Antoni ein Haus. Ihr Mann war zunächst nicht begeistert. Seit 2002 verbringt die ehemalige Lehrerin die warme Jahreszeit im alten Heimatdorf, wo sie sich bei jeder Haferlandwoche engagiert, ab und zu Touristen durch die Kirche führt oder rumänische Freunde und ehemalige Schüler besucht. Zusammen mit einer nicht ausgewanderten Freundin, der Lehrerin Ortrun Morgen aus Schweischer, hatte sie jahrelang, als es in Meschendorf keinen Pfarrer gab, sogar den Gottesdienst gestaltet. „Sie ist keine Pfarrerin, aber sie hat eine Ausbildung erhalten, sodass sie predigen durfte“, erklärt Hermine Antoni. „Sie hat den geistlichen Teil gemacht und ich den kulturellen, ich habe den Besuchern über Sitten und Bräuche erzählt, denn viele sind ja schon in der dritten Generation hier, die kennen das nicht mehr.“

In Meschendorf werden auch viele schöne Erinnerungen wach: Die Spiele auf der Straße mit den anderen Kindern: „Wir waren nur zwei Mädchen, der Rest Jungs, aber wir haben alles mitgemacht!“ Am Abend war man oft sogar zum Füße waschen zu müde und die Großmutter, bei der sie aufwuchs, hatte andere Sorgen. „Trotzdem waren wir kaum krank. Wir armen Kinder – nein, waren nicht arm, wir waren glücklich, auch wenn wir oft nur ein Fettbrot als Essen hatten. Wir haben nichts vermisst.

Wir hatten die anderen Kinder auf der Straße, die Cousinen und Cousins, unsere Omas. Auch die anderen hatten deportierte Eltern oder den Vater im Krieg verloren, wir kannten nichts anderes.“ Wenn man auf der Beratungsstelle in Deutschland von traumatisierten Kindern sprach, weil ein Elternteil fehlte, dachte sie oft: Wie viele Schäden müsste ich da haben? „Aber man kann sich selbst aus Situationen raus helfen – oder drüber brodeln und bohren, wie schlecht alles war.“ „Meine Oma hat mich abends überall hin mitgenommen, zur Strickoder zur Spinnstunde mit den anderen Frauen. Wir Kinder blieben oft bis zehn Uhr auf – wie in Italien. Es hat mir nicht geschadet!“ fügt sie lachend an.

Auch das Zusammenleben verschiedener Ethnien – anderorts oft problematisiert – hat sie frühzeitig kennengelernt. „Wir haben uns mit den Rumänen immer gut verstanden und auch als Kinder miteinander gespielt. Jeder konnte die Sprache des anderen – wenn auch nicht perfekt, es war eher so ein Wirrwarr, aber wir haben uns verstanden.“


Hermine

Wir hatten die anderen Kinder auf der Straße, die Cousinen und Cousins, unsere Omas. Auch die anderen hatten deportierte Eltern oder den Vater im Krieg verloren, wir kannten nichts anderes.“ Wenn man auf der Beratungsstelle in Deutschland von traumatisierten Kindern sprach, weil ein Elternteil fehlte, dachte sie oft: Wie viele Schäden müsste ich da haben? „Aber man kann sich selbst aus Situationen raus helfen – oder drüber brodeln und bohren, wie schlecht alles war.“ „Meine Oma hat mich abends überall hin mitgenommen, zur Strickoder zur Spinnstunde mit den anderen Frauen. Wir Kinder blieben oft bis zehn Uhr auf – wie in Italien. Es hat mir nicht geschadet!“ fügt sie lachend an.

Auch das Zusammenleben verschiedener Ethnien – anderorts oft problematisiert – hat sie frühzeitig kennengelernt. „Wir haben uns mit den Rumänen immer gut verstanden und auch als Kinder miteinander gespielt. Jeder konnte die Sprache des anderen – wenn auch nicht perfekt, es war eher so ein Wirrwarr, aber wir haben uns verstanden.“ Schmunzelnd erinnert sie sich an einen Ungarn und einen Italiener, beide mit Sächsinnen verheiratet, über deren Aussprache man sich oft amüsierte. Die Menschen im Dorf pflegten eine pragmatische Offenheit: „Der Italiener war katholisch, der war aus dem Krieg hiergeblieben, und wir nahmen ihn in unserer Kirche auf. Zu den Rumänen, die alle orthodox sind, konnte man ihn ja auch nicht stecken.“ Bis heute hat sich das gute Miteinander gehalten. Zur Haferlandwoche lädt Hermine Antoni alle Rumänen im Dorf persönlich ein. Der Gottesdienst und die Reden werden zweisprachig abgehalten – beim Brunch haben rumänische Frauen ganz selbstverständlich mitgeholfen. „Maria, ich brauch deine Hilfe, sag ich – und natürlich hilft sie dann. Das ist was anderes, wenn du die Leute mit reinholst.“ Überzeugt fügt sie an: „Wer sich die Mühe nicht macht, mit allen Nationen der Erde zu leben, der bestraft sich nur selber.“

Das Klavier am Fenster

Als die deportierten Eltern nach fünf Jahren plötzlich aus der UdSSR zurückkehrten, wurden für die Kinder andere Saiten aufgezogen. Der Vater war im Bergwerk in Dnjepropetrowsk gewesen, die Mutter in Stalino am Bau, das letzte Jahr verbrachten sie im selben Lager, erzählt Hermine Antoni. „Für mich waren es fremde Leute“, erinnert sie sich. War die Oma nachsichtig gewesen und ließ sie nach Belieben gewähren, kontrollierte die Mutter auf einmal streng die Hausaufgaben. „Ich musste zehnmal lesen, bis ich es auswendig konnte, und wehe ich machte einen Fehler. Mutter war ungeduldig – von der Großmutter kannte ich sowas nicht.“ Während die Kinder nichts vermissten, war das Leben für die Erwachsenen umso schwerer: Krieg, Deportation, der Besitz enteignet – „man musste alles neu anpacken, hatte Schulkinder und kein Geld. Um die Kosten fürs Internat in Schäßburg zu bestreiten, mussten sie oft hier und dort arbeiten. Doch meine Mutter war immer positiv, nie hat sie geklagt“.

Erst kurz vor ihrem Tod hatte sie das Bedürfnis, auch über die Erlebnisse der Deportation zu sprechen, erzählt Hermine Antoni. Früher hieß es höchstens: „Du solltest mal Russland erlebt haben“, wenn etwas auf dem Teller liegen blieb. Oder man hörte die Eltern miteinander Russisch sprechen, wenn die Kinder etwas nicht mitbekommen sollten. Auch dass die Mutter alle Maurerarbeiten zuhause selbst durchführte, war ein Relikt aus der Deportation, wo sie auf dem Bau Mauern, Verputzen und Tünchen gelernt hatte. „Du wolltest doch immer was schreiben“, drängte sie dann plötzlich in den letzten beiden Jahren. Kein leichtes Unterfangen, da die Mutter 200 Kilometer entfernt in Düsseldorf lebte. Doch Hermine Antoni hat die Herausforderung angenommen und schreibt an einem Buch.

Langweilig wird es der ehemaligen Pädagogin nicht in Meschendorf. Hier fühlt sie sich „pudelwohl“ - aber auch in Deutschland führt sie ein aktives Leben: Fitness-Freundinnen, Englischkurs an der Volkshochschule, Kirchenchor. „Wenn ein schöner langer Herbst ist, bleibe ich bis spät im Oktober. Dann komme ich eben zu spät zu den Kursen der Volkshochschule.“

Was der Unterschied ist zwischen dem Leben hier und dort, heute und früher? Hermine Antoni illustriert es mit einer Erinnerung aus der Kindheit: „Am Abend gingen die Jugendlichen immer durch die Straßen. Ich hatte einen Flügel, den hab ich dann ans Fenster geschoben, beide Läden weit aufgemacht und gespielt. Plötzlich versammelten sich alle unter meinem Fenster und fingen an zu tanzen! Ich kannte die besten Melodien“, freut sie sich und fügt an: „Es war eine schöne Zeit.“ Eine Zeit, die sie sehr geprägt hat. Was ihr in Deutschland am meisten fehlte? Die Antwort kommt spontan: „Das viele Lachen hier - und das Blödsinn machen!“

 

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